Gründonnerstag, 9. April 2020
Die Töchter Jerusalems
Lukas 23, 26-31
Liebe Gemeinde,
Wer hat hingeschaut? Wer hat weggeschaut? Wer hat geredet? Wer hat geschwiegen?
Wie oft können wir uns das im Rückblick auf geschichtliche oder schreckliche Ereignisse fragen? Wer wagt es hinzublicken und zu reden, schliesslich auch etwas zu tun im Hinblick auf Gewalt, Diktaturen, Kriege?
Die Behörden warnen in der jetzigen Zeit der engen räumlichen und finanziellen Verhältnisse vor mehr Gewalt in den Familien und Beziehungen. Plötzlich wird ein Thema, das zwar immer vorhanden ist, aber oft eher im Hintergrund vorkommt, zur bedrückenden Frage: wie können sich Opfer von häuslicher Gewalt in der jetzigen Zeit des Lockdowns, resp. der Ausgangssperre in andern Ländern, überhaupt noch an Hilfe wenden oder einen Hilferuf schicken? Wo bleibt die Sozialkontrolle, wenn man nicht hinter die Wände der Häuser und Wohnungen blicken kann, Kinder nicht zur Schule gehen, Opfer und Täter quasi zusammen eingesperrt sind?
Es ist eine bedrückende Vorstellung, was alles in den eigenen vier Wänden hochkommen kann, wenn man sich nicht ausweichen kann und ständig beieinander sein muss.
Wer schaut jetzt hin? Ja, wer kann überhaupt noch hinschauen? Und was ist zu tun, wenn man etwas sieht?
Der Evangelist Lukas erzählt von Menschen, die hingeschaut und geredet haben. Es sind Frauen, die Jesus auf seinem letzten Weg zur Hinrichtungsstätte begleiten. Sie gehen mit ihm nach Golgatha. Wer die Frauen im Einzelnen sind, wird nicht gesagt. Vermutlich gehören Maria von Magdala und Maria, die Mutter Jesu, dazu, aber auch viele namenlose Frauen, solche, die Jesus geheilt hatte, denen er ein gutes Wort gesagt hatte, oder die einfach sehen wollen, was jetzt passiert.
Frauen begleiten Jesus und weinen, weil ihr Freund, ihr Sohn Schmerzen und Qualen erleiden muss. Sein Leiden trifft sie mitten ins Herz. Sie weinen Tränen der Trauer, des Schmerzes, der Ohnmacht.
Und wo sind die Jünger? Sie werden nicht erwähnt. Wahrscheinlich haben sie sich eher versteckt, weil es als Mann gefährlicher gewesen wäre, als Freund Jesu präsent zu sein, als für Frauen. Auch heute wagen es viele Menschen nicht, bei einer gewaltvollen Situation oder bei Unrecht hinzuschauen und zu reden. Wir sprechen von Zivilcourage, dem Mut einzugreifen und sich verletzlich zu machen und sind schockiert, wie oft dieser Mut fehlt. Gründe, nicht hinzuschauen, nichts zu sagen, die Polizei nicht zu rufen, gibt es viele. Es dürfte vor allem die Angst sein – ähnlich wie bei den Jüngern Jesu, die Menschen daran hindert.
Aber die Frauen sind da – so wie oft die Frauen da sind bei Katastrophen, Kriegen, Unrechtssystemen und um ihre Söhne, Töchter und ihre Männer weinen. Mir kommt das Bild der weinenden Frauen vor den Gefängnissen in Südamerika, die sich Sorgen um ihre Angehörigen wegen Covid-19 machen. Weinen gilt in unserer Gesellschaft eher als Schwäche, lautes Schreien im Schmerz ist in unseren Breitengraden nicht verbreitet. Jemand, der öffentlich weint, berührt uns unangenehm und gilt als Schwächling. Weinen ist ein Zeichen der Schwäche – so wurde es uns als Kinder gelehrt. Man muss sich zusammenreissen und sicher nicht seine Trauer öffentlich machen.
Hier auf dem Weg nach Golgatha ist das Weinen der Frauen eine Stärke. Sie begleiten Jesus auf diesem Weg, lassen ihn nicht allein und weisen mit ihrem lauten Weinen auf das Unrecht und die unfassbare Gewalt hin. Das Weinen der Frauen ist einerseits ein Zeichen von Ohnmacht und Verzweiflung, andererseits aber auch ein starkes Zeichen der Präsenz. Sie sagen uns damit: „Wir sind Zeuginnen und Zeugen, durch uns geraten die Opfer nicht in Vergessenheit, wir sind lebendige Erinnerung.“
Jesus spricht diese Frauen an: „Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch selbst und eure Kinder.“
Wenn ich über das Schicksal eines lieben Freundes oder des eigenen Kindes weine, weine ich immer auch ein Stück über mich selbst: über die Schmerzen des Verlustes, den ich erleide, über die eigene Ohnmacht, nichts dagegen tun zu können, über die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit und Sterblichkeit, über das Ende meiner Erwartungen und Hoffnungen.
Vielleicht ist uns im Moment auch sehr zum Weinen, wenn wir an die vielen Menschen denken, die weltweit erkrankt sind und leiden, an die Menschen in Trauer und an die erschöpften Menschen, die versuchen zu helfen, so gut sie können. Vielleicht ist uns auch ums Weinen über unsere eigene Situation, sei es Einsamkeit, Isolation, sei es Zukunftsangst, sei es die Enge, der man nicht entfliehen kann, sei es die Ungewissheit, was alles noch kommen mag. Wir leben in einer Zeit, in der das Weinen aktuell, aber vor allem auch das Hinschauen und Reden erwünscht und gefordert ist.
Jesus hat bei seiner Aussage auch die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Kopf und das ganze Leid, welches das jüdische Volk von der römischen Besatzungsmacht erfahren wird. Jesus hat selbst über Jerusalem geweint, als er am Ölberg stand und auf den Tempel geblickt hat (Kapitel 19). Dort sagt er: «Wenn doch auch du erkennst zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!»
Jesus war auch einer, der hingeschaut und geredet hat. Er hat sich eingesetzt für alle, die selbst nicht sehen und reden konnten, hat sich gewehrt gegen die, welche nicht hinsehen und reden wollten, und hat auf die Gewalt und das Unrecht der römischen Besatzung hingewiesen – daran ist er letztendlich gestorben.
Die Erinnerung an diese Töchter Jerusalems, die weinten und Jesus begleiteten, fordern uns auf, darüber nachzudenken, wo wir wegschauen und schweigen, und wo unser Einsatz möglich ist für das, was zum Frieden dient. Wir können Zeuginnen und Zeugen für das Leben sein, überall dort, wo Werte Übermacht gewinnen, die nicht der Liebe und der Gerechtigkeit dienen. Wir dürfen auch weinen und klagen über unsere Ohnmacht und damit ein Zeichen setzen für die Menschlichkeit. Denn unser Weinen zeigt auf: wir schauen hin. Die weinenden Töchter Jerusalems sind Vorbild dafür, wie Weinen und Klagen über Leid und Gewalt zur Stärke werden.
Amen
Verfasst von Pfarrerin Franziska Eich Gradwohl, Bretzwil